Warum mein Kind beim Lernen immer aufsteht – und was das mit dem Gehirn zu tun hat

Bastian Schröder Bastian Schröder
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Springt Ihr Kind ständig beim Lernen auf? Warum das keine schlechte Angewohnheit sein muss – sondern ein Zeichen für ein lernfreudiges Gehirn.

Warum mein Kind beim Lernen immer aufsteht – und was das mit dem Gehirn zu tun hat

Bild mit KI erstellt (DALL-E)

„Bleib doch mal sitzen!“ – oder etwa nicht?

Vielleicht kommt Ihnen diese Szene bekannt vor: Ihr Kind sitzt am Tisch, der Stift in der Hand, das Arbeitsheft geöffnet. Doch kaum hat es begonnen, steht es wieder auf. Es läuft durchs Zimmer, schwingt die Arme, klettert vom Stuhl – und Sie fragen sich, warum es so schwer ist, einfach mal ruhig zu bleiben.

Gerade Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen wie ADHS, Hochbegabung oder Autismus erleben solche Situationen oft. Dabei steckt hinter dem ständigen Aufstehen häufig nicht Unwille oder Ablenkung – sondern ein faszinierender neurologischer Prozess. In diesem Artikel erfahren Sie, warum Bewegung beim Lernen eine wichtige Rolle spielt und wie Sie diesen Impuls liebevoll und effektiv begleiten können.


1. Bewegung ist kein Störfaktor – sie ist ein Lernverstärker

Das menschliche Gehirn ist kein statisches Organ. Es liebt Bewegung – vor allem im Kindesalter. Schon im Mutterleib beginnt Lernen durch Bewegung: Das Gleichgewichtssystem (Vestibularsystem), das eng mit Konzentration, Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit verbunden ist, entwickelt sich früh durch Bewegungserfahrungen.

Wenn Ihr Kind also beim Lernen aufsteht, streckt oder durch den Raum läuft, geschieht das nicht grundlos. Es ist eine intuitive Reaktion des Körpers, um das Gehirn wieder in Schwung zu bringen – um sprichwörtlich „neu zu denken“.

Was dabei im Gehirn passiert:

  • Bewegung aktiviert das limbische System, das unter anderem für Motivation zuständig ist.
  • Der präfrontale Kortex (zuständig für Planung und Aufmerksamkeit) arbeitet effektiver, wenn der Körper nicht völlig inaktiv ist.
  • Regelmäßige Bewegung steigert die Durchblutung – das Gehirn wird besser mit Sauerstoff versorgt.

Gerade bei hochsensiblen, schnell überreizbaren oder sehr aktiven Kindern sind diese natürlichen Ausgleichsbewegungen ein Versuch des Nervensystems, in Balance zu bleiben.


2. Sitzen ist nicht die Norm – sondern eine moderne Erfindung

Kinder sind von Natur aus bewegt. Still sitzen, stundenlang konzentriert auf Papier oder Bildschirm schauen – das entspricht nicht dem natürlichen Entwicklungsrhythmus. In der frühkindlichen Bildung wissen wir: Lernen geschieht durch Tun, Erleben, Fühlen – und durch Bewegung.

Früher wurde dieser Impuls oft unterdrückt: „Setz dich still hin!“ Doch heute wissen wir es besser. Besonders bei Kindern mit neurodiversen Eigenschaften (z. B. ADHS oder Autismus) kann starres Sitzen zu Überforderung führen, während kurze Bewegungspausen die Lernfähigkeit sogar steigern.


3. Reizarme Lernumgebung: Weniger Bunt, mehr Fokus

Ein überladener Schreibtisch, blinkende Lern-Apps oder grelle Farben auf Arbeitsblättern können das Gehirn zusätzlich stressen. Besonders sensible Kinder – sei es durch Hochbegabung, Hochsensibilität oder autistische Wahrnehmung – brauchen Klarheit und Ruhe, um ihr Potenzial entfalten zu können.

Unsere Empfehlung aus der Praxis:

  • Nutzen Sie strukturierte, schlichte Materialien mit klarer Gliederung und wenig Ablenkung.
  • Weniger ist mehr: Ein ruhiger Raum, wenige Farben, kein Bildschirm nebenbei – das hilft vielen Kindern, sich zu konzentrieren.
  • Rituale geben Halt: Kurze Lernzeiten (10–20 Minuten), dann eine bewusste Bewegungspause – z. B. durch Hüpfen, Hampelmänner oder Dehnübungen.

4. Was Sie konkret tun können – Tipps für den Familienalltag

Hier ein paar erprobte Strategien, wie Sie Ihrem Kind helfen, beim Lernen in Bewegung zu bleiben – ohne dass es chaotisch wird:

✅ Lerninseln statt Lernzellen

Richten Sie im Kinderzimmer oder Wohnzimmer kleine „Lernstationen“ ein: z. B. einen Stehtisch zum Schreiben, eine Matte zum Lesen, einen Teppich fürs Sortieren oder Rechnen mit Materialien. So bleibt Ihr Kind in Bewegung, ohne den Lernfluss zu verlieren.

✅ Bewegung bewusst einplanen

Verabreden Sie mit Ihrem Kind, dass es nach jeder Aufgabe kurz aufspringen, laufen oder hüpfen darf – als Mini-Belohnung, aber auch als echte Regenerationszeit fürs Gehirn.

✅ Akzeptieren Sie Individualität

Nicht jedes Kind lernt still am Tisch. Manche brauchen Liegen, Schaukeln, Knetmasse in der Hand oder rhythmische Bewegungen mit dem Fuß. Beobachten Sie: Was tut Ihrem Kind gut?

✅ Lernen darf leise sein

Achten Sie auf eine reizarme Umgebung: Weniger visuelle oder akustische Ablenkungen ermöglichen tieferes, fokussiertes Lernen – besonders bei schnell überforderten Kindern.


5. Wenn Bewegung zum Lernstil gehört

Viele Kinder lernen kinästhetisch – also über Bewegung. Für sie ist Stehen, Gehen oder rhythmisches Wippen nicht Ablenkung, sondern ein Ausdruck von Konzentration.

Das gilt besonders für:

  • Kinder mit hoher Körperwahrnehmung (häufig bei Hochbegabung oder Autismus)
  • Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten
  • Kinder, die sich überdurchschnittlich kreativ oder intuitiv ausdrücken

In der Praxis sehen wir oft: Wenn Kinder „in Bewegung lernen dürfen“, behalten sie Inhalte besser, fühlen sich wohler – und verlieren weniger schnell die Lust.


6. Bewegung als Ausdruck innerer Prozesse – bei Hochbegabung, Autismus und ADHS

Kinder mit besonderen Begabungen oder neurodiversen Wahrnehmungen zeigen häufig eine besonders enge Verbindung zwischen Denken, Fühlen und Bewegung. Gerade bei hochbegabten, autistischen oder Kindern mit ADHS wird der Bewegungsdrang oft missverstanden – dabei ist er oft ein notwendiger Teil ihres Lernprozesses.

Hochbegabte Kinder: Wenn das Denken schneller ist als der Körper stillhalten kann

Bei vielen hochbegabten Kindern läuft das Gehirn auf Hochtouren. Sie denken komplex, verknüpfen blitzschnell Informationen – und sind mitunter schneller im Kopf als ihr Körper mitkommt. Das äußert sich oft in:

  • Unruhe beim Arbeiten, weil das Gehirn schon zwei Schritte weiter ist.
  • Bewegung als Denkverstärker, z. B. durch Herumgehen, rhythmisches Wippen oder Kritzeln beim Zuhören.
  • Reizempfindlichkeit, bei der äußere Einflüsse schnell überfordern – Bewegung hilft dann beim Ausgleich.

Hier ist Bewegung kein Zeichen mangelnder Konzentration – sondern ein Versuch, komplexe innere Prozesse zu regulieren.

Autistische Kinder: Reizfilter, Körpersprache und Selbstregulation

Autistische Kinder nehmen ihre Umwelt oft intensiver oder anders wahr. Geräusche, Licht, Berührungen oder Anforderungen im sozialen Miteinander können überwältigend wirken. Bewegung ist für viele von ihnen eine zentrale Strategie zur Verarbeitung:

  • Stimming (z. B. Schaukeln, Wippen, Klatschen) hilft, Reize zu filtern und sich zu beruhigen.
  • Körperliche Wiederholungen schaffen Struktur und Sicherheit in einer reizreichen Welt.
  • Zielgerichtete Bewegungsangebote, wie Rollen auf der Matte oder schweres Tragen, fördern die Selbstwahrnehmung und das Lernen.

Bewegung bei autistischen Kindern ist oft Teil ihrer Selbstregulation – kein „Fehlverhalten“, sondern eine hilfreiche Reaktion auf ihre Umwelt.

Kinder mit ADHS: Bewegung als Schlüssel zur Fokussierung

Bei Kindern mit ADHS ist der Bewegungsdrang kein „Störenfried“, sondern ein Teil ihrer neurologischen Ausstattung. Das Gehirn dieser Kinder braucht oft mehr Reize und Bewegung, um aktiv und konzentriert zu bleiben. Stillstand kann dagegen schnell zu innerer Unruhe oder Abschalten führen.

Typische Muster:

  • Zappeln, Kippeln, Wippen sind oft unbewusste Versuche, das Gehirn wachzuhalten.
  • Körperlich aktive Lernformen – z. B. Lernspiele im Stehen oder Lernen mit Bewegungskarten – helfen, Inhalte besser zu behalten.
  • Strukturierte Pausen mit intensiver Bewegung (z. B. Seilspringen, Toben, Trampolin) helfen, das Nervensystem zu regulieren und wieder aufnahmefähig zu machen.

Anstatt Bewegung zu unterdrücken, lohnt es sich bei ADHS-Kindern, sie als natürlichen Teil des Lernens einzuplanen – bewusst, liebevoll und klar strukturiert.


Fazit: Vertrauen in die Intuition Ihres Kindes

Wenn Ihr Kind beim Lernen aufsteht, herumläuft oder zappelt, bedeutet das nicht automatisch Unaufmerksamkeit. Vielleicht ist es einfach auf dem besten Weg, sich selbst zu regulieren – auf seine Weise.

Statt das Verhalten zu unterbinden, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Welche Lernumgebung passt zu meinem Kind? Welche Pausen braucht es? Wie kann ich Bewegungsimpulse liebevoll begleiten?

Lernen ist keine Einbahnstraße. Und Kinder sind keine Maschinen. Wenn wir ihnen den Raum geben, sich in ihrem Rhythmus zu entfalten, geschieht oft Erstaunliches.


👣 Kleiner Impuls zum Schluss:
Beobachten Sie in den nächsten Tagen, wann Ihr Kind beim Lernen aufsteht – und was danach passiert. Vielleicht entdecken Sie darin schon den ersten Schritt in Richtung eines gehirngerechten Lernalltags.